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Kirchenzucht

In der reformierten Tradition gilt die Kirchenzucht vielerorts neben Wort und Sakrament als nota ecclesiae, als Kennzeichen, an dem die Menschen die Kirche erkennen können. Die Kirchenzucht geht von der Vorstellung aus, dass diejenigen, die an Christus glauben, in der Kirche eine Gemeinschaft bilden. Christus ist das Haupt, die Gemeinde der Leib. Deshalb muss die Gemeinde die Regeln, die Christus aufgestellt hat, befolgen.

Biblische Grundlegung
Die Bibel benutzt den Begriff der Kirchenzucht nicht. Die Konzeption jedoch wird von den meisten Theologen, die sich mit der Kirchenzucht beschäftigen, direkt aus der Bibel abgeleitet. In Mt. 18 befiehlt Jesus den Jüngern, einander zu ermahnen, zunächst unter vier Augen, dann unter Zeugen, dann in der Gemeinde. Wenn derjenige, der gesündigt hat, auch auf die Gemeinde nicht hört, soll er aus der Gemeinde ausgeschlossen werden. Mit dieser Textstelle begründet die Kirche die Kirchenzucht und ihr letztes Mittel, die Exkommunikation. Eine weitere zentrale Perikope für die Kirchenzucht ist 1 Kor 5. Hier wird die Exkommunikation "zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn" durchgeführt. Die Möglichkeit zur Umkehr des Sünders und zur Wiederaufnahme in die Gemeinde findet sich hier begründet.
Schwieriger ist die Beziehung der Kirchenzucht zum Abendmahl zu definieren. Vielerorts ist der Abendmahlsausschluss das bevorzugte Mittel der Kirchenzucht (neben Ausschluss von kirchlichen Ämtern, auch der Patenschaft, Verweigerung kirchlicher Amtshandlungen o.ä.). Doch die Beziehung ist nicht nur negativ definiert. Ist der Abendmahlsausschluss ein reines Zuchtmittel, so wird das Mahl missbraucht. 1 Kor 11 fordert dazu auf, sich vor dem Abendmahl selbst zu prüfen, 1 Kor 10 spricht davon, dass die Abendmahlsteilnehmer im Mahl zur Gemeinschaft werden. In diesem Sinne hat die Gemeinde die Prüfung ihrer Glieder übernommen, als Ergänzung, nicht als Ersatz der individuellen Selbstprüfung. Die Kirchenzucht soll die Gemeinschaftlichkeit der Gemeinde wie ihre Bezogenheit auf Christus bewahren.

Kirchengeschichtlich
Schon von Beginn christlicher Gemeinden an gab es Gemeindeglieder, die von den moralischen und theologischen Normen der christlichen Gemeinschaft abwichen. Die Gemeinden mussten entscheiden, wie sie mit solchen 'Sündern' verfahren wollten. Evangelien wie neutestamentliche Briefe zeugen von dieser Problematik. Zunächst wurde die Kirchenzucht von der ganzen Gemeinde geübt; in nachapostolischer Zeit ging sie in die Hände der Amtsträger über.
Das erste große Problem für die Kirchenzucht entstand während der Christenverfolgungen: Unter staatlichem Druck hatten viele Christen den römischen Göttern geopfert, später wollten sie wieder in die Gemeinde aufgenommen werden. Der Abfall von der Gemeinde war aber als schwerste Sünde definiert, für ihn gab es keine Vergebung. Die Bischöfe standen vor der seelsorgerlichen und ekklesiologischen Entscheidung, entweder den Betroffenen das Seelenheil zu verweigern oder die Heiligkeit der Kirche infrage zu stellen.
War eine Wiederaufnahme der Abgefallenen möglich? Der Hebräerbrief hatte diese Frage verneint. Unter dem seelsorgerlichen Druck der großen Zahl der Abgefallenen im dritten Jahrhundert gelangte die Kirche zu der Auffassung, eine Vergebung sei in Extremsituationen möglich, könne jedoch nur durch den Bischof vollzogen werden (vgl. Cyprian, De lapsis). Abgesehen von der ekklesiologischen Folge, dass die Heiligkeit der Kirche neu definiert werden musste, bedeuteten die Auseinandersetzungen um die Abgefallenen und die zweite Buße (nach der ersten Buße in der Taufe) eine Verfestigung der Kirchenzucht sowie der kirchlichen Hierarchie.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirchenzucht systematisiert und differenziert, die Zahl der kirchlichen Strafen vermehrt. Neben der Kirchenzucht an Laien bildete sich das Disziplinarrecht für Kleriker heraus. Im frühen Mittelalter entwickelte sich die Exkommunikation zu einem eigenständigen Zuchtmittel. Gratian unterschied zwischen der Teilexkommunikation (excommunicatio particularis = spätere excommunicatio minor) und der Vollexkommunikation (excommunicatio totalis = spätere excommunicatio maior). Die excommunicatio minor reagierte auf leichtere Vergehen und bestand im Abendmahlsausschluss oder Ausschluss von allen Sakramenten, die excommunicatio maior wurde nach schweren Vergehen verhängt, in der Regel Widerstand gegen die kirchliche Jurisdiktion, und schloss von der Gemeinschaft der Gläubigen aus. Sie hatte auch bürgerliche Rechtsfolgen: Der Umgang mit dem Exkommunizierten war verboten.
Ab dem 13. Jahrhundert war die Beziehung zwischen Exkommunikation und Bußdisziplin vollständig aufgehoben, die Exkommunikation diente allein dem Schutz der Gemeinschaft und der Besserung des Täters. In dieser Zeit begann auch der inflationäre Gebrauch der Kirchenzucht. So wurden Exkommunikationen verhängt, um Schulden, Zinsen oder Abgaben einzutreiben. Noch im Mittelalter suchte die Kirche diese Missbräuche einzudämmen.

Martin Luther lehnte die excommunicatio maior ab, behielt die Kirchenzucht mit Ermahnungen bis hin zum Abendmahlsausschluss aber bei. Die Hoheit über die Disziplin sollte bei den Gemeinden liegen, nicht in der kirchlichen Hierarchie. Einige lutherische Reformatoren integrierten die Kirchenzucht in ihre Kirchenordnungen (Johannes Bugenhagen, Johannes Brenz, Justus Jonas u.a.). Letztlich aber wurde die Kirchenzucht in den lutherischen Gebieten nicht einheitlich geregelt. Später war sie den landeskirchlichen Konsistorien anvertraut.
Die reformierten Reformatoren maßen der Kirchenzucht größere Bedeutung bei. Während die lutherische Reformation mehr an der Lehre als an dem Leben der Christen interessiert war, wollten die Reformierten auch das Leben der Gemeindeglieder reformieren. Ob hierbei obrigkeitliche und gemeindliche Sittenzucht in eins gesetzt (Ulrich Zwingli) oder streng geschieden werden sollten (Johannes Oecolampad), war von Anfang an umstritten. Vordenker einer ausgefeilten Kirchenzucht war der Straßburger Reformator Martin Bucer. Auch wenn er in seiner Stadt eine rein kirchliche Zucht nicht durchsetzen konnte, wirkte er über den Kölner Reformationsversuch sowie seinen Einfluss auf Johannes Calvin, Valérand Poullain und Johannes a Lasco weit in reformierte Theologie und Kirche hinein. Die Kirchenzucht sollte durch die Kirchenräte/Presbyterien, von der Gemeinde gewählte Gemeindeleitungen, ausgeübt werden, aber auch jedes einzelne Gemeindeglied war dazu aufgerufen, Brüder und Schwestern, die vom rechten Weg abwichen, zu ermahnen und so in die Gemeinschaft der Kirche zurückzuführen.
Der sog. linke Flügel der Reformation, die Täufer, führten größtenteils eine strenge Kirchenzucht durch. Ihnen lag in erster Linie die Reinheit der Gemeinde am Herzen. Sünder wurden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Obrigkeit war in diesen Gruppierungen nicht an der Zucht beteiligt.
In der katholischen Kirche hat das Trienter Konzil die Amtsgewalt der Bischöfe über die Kirchenzucht gestärkt. Das kirchenzuchtliche System ist im Codex Iuris Canonici kodifiziert. Bis ins 19. Jahrhundert hinein beinhaltete die große Exkommunikation den Verlust der kirchlichen Rechte, nicht aber der kirchlichen Pflichten. Sie galt als Besserungsstrafe, die den Menschen nicht grundsätzlich von der Kirche ausschloss. Im 19. Jahrhundert wurde die Unterscheidung von excommunicatio maior und excommunicatio minor aufgegeben.

Puritanismus und Pietismus betonten die Bedeutung der Kirchenzucht als Voraussetzung und Förderung eines gottgefälligen Lebens. Die Zucht wurde als umfassender Lebensstil des Einzelnen verstanden. Die Kirchenzucht trat im 17. und 18. Jahrhundert jedoch gegenüber anderen kirchlichen Handlungen zurück; die Kirchen vertrauten bei der Besserung ihrer Glieder mehr auf Güte denn auf Zucht.
Im Zuge der Säkularisierung verloren im 19. und 20. Jahrhundert auch Kirchenzucht und Exkommunikation an Bedeutung. Ihre geistlichen Implikationen wurden nicht mehr gefürchtet, die weltlichen ignoriert. Die Existenz mehrerer anerkannter christlicher Gemeinschaften an einem Ort ermöglichte es den Menschen, die Gemeinde zu wechseln, wenn ihnen Züchtigung drohte. In Reaktion darauf entstanden neue Erweckungsbewegungen (Revivals, besonders in Amerika) und kirchliche Gemeinschaften, die sich freiwillig einer teils neuen Form von Zucht unterwarfen (Taizé, Iona, u.a.).
Anders stellt sich die Situation in den Kirchen Afrikas und Asiens dar. Dort wird die Kirchenzucht vielerorts sehr streng durchgeführt. Gegenstand der Zucht sind zumeist ursprüngliche Riten und Traditionen, daneben spielen oft Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden eine große Rolle.

Der Ort der Kirchenzucht in Praktischer Theologie und Systematik
Zwei theologische Ansätze bestimmen den Umgang mit der Kirchenzucht: die Seelsorge und die Ekklesiologie. Von den Christenverfolgungen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Kirchenzucht als Bestandteil der Seelsorge verstanden. Erst Friedrich Schleiermacher definierte sie als nicht zur Seelsorge, sondern zum Kirchenregiment gehörig. Die liberale Theologie wandte sich gegen eine heuchlerische Ausübung der Kirchenzucht. Die Erfahrungen der Bekennende Kirche jedoch zeitigten eine neue Beschäftigung mit der Kirchenzucht. Heute wird die Kirchenzucht meist individualethisch interpretiert und wieder in Beziehung zur Seelsorge gesehen. Neue pastoralpsychologische Ansätze in der Seelsorge wirken sich auch auf das Verständnis der Kirchenzucht aus.
In der Ekklesiologie bestimmen Fragen nach dem Verhältnis von Reinheit und Heiligkeit der Kirche einerseits und sündigem Verhalten ihrer Glieder andererseits, nach kirchlicher Hierarchie und Ordnung sowie nach der Beziehung von Abendmahl und Kirchenzucht die Beschäftigung mit der Zucht. Vor allem die Beziehung der Kirchenzucht zum Abendmahl ist in den letzten Jahren auf den Prüfstand geraten. Vielfache Missbräuche des Abendmahls als Zuchtmittel mögen zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Die Evangelische Kirche im Rheinland (Deutschland) hat den Paragraphen zur Kirchenzucht in ihrer Kirchenordnung von 1996 gestrichen, die Leitlinien der VELKD (Deutschland) von 1997 distanzieren sich von der Zucht. Zucht scheint nunmehr lediglich als Ausschluss von kirchlichen Ämtern und Amtshandlungen möglich, nicht aber als Abendmahlsausschluss.

Judith Becker (2005)

 

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